Während es bei der individuellen Identität um die Erfahrung des Einzelnen geht, steht bei der kollektiven Identität das Kollektiv im Vordergrund. „Kollektiv“ beschreibt eine Gruppe von Menschen (soziales Gebilde), die sich durch gemeinsame Normen und Werte auszeichnen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft bewusst miteinander interagieren (organisierte Kollektive) oder ob sie lediglich ein Gefühl von Zusammengehörigkeit verspüren, ohne jedoch bewusst oder abgestimmt gemeinsame Ziele und Handlungen zu verfolgen (unorganisierte Kollektive). Eine kollektive Identität sichert einer Gruppe oder Gesellschaft „Kontinuität und Wiedererkennbarkeit“ (Jürgen Habermas) als wichtige Bedingung für das Zugehörigkeitsgefühl der Gruppenmitglieder und die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Ihren Kern bilden allgemein akzeptierte Werte, Normen und Weltbilder, die festlegen, was als normal und legitim gilt. Familien, Völker, aber auch Nationen, können demnach als Kollektive verstanden werden, deren Bestand durch kollektive Identitäten hergestellt wird. Kollektive Identitäten können sich aber auch aus ähnlichen individuellen Erfahrungen von Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen der Diskriminierung und damit einhergehenden sozialen Positionen ergeben (Positionierung). Demgegenüber spielen z.B. Weißsein oder Nicht-Jüdischsein häufig keine Rolle für individuelle oder kollektive Identitäten, weil beides als Norm häufig unbenannt bleibt.
Beispiele für kollektive Identitäten sind Ethnizitäten. Nationen und Völker existieren nicht „an sich” und von Natur aus, sondern nur insofern sich Menschen wechselseitig als deren Mitglieder definieren und an ihre Existenz glauben. Dadurch, dass Menschen an sie glauben, richten Menschen ihr Handeln an kollektiven Identitäten aus, was ihnen wiederum reale Geltung verschafft und zu ihrer Institutionalisierung führt, z.B. in Form von Pässen. Problematisch werden kollektive Identitäten, wenn, wie z.B. im Fall der Nation, die Identifikation mit einer kollektiven Identität zur Voraussetzung dafür wird, Teilhaberechte ausüben zu dürfen (siehe Nationalismus). Aus kritischen Perspektiven wird der Konstruktionscharakter einer nationalen Kollektivbildung und ggf. auch ihr Aufsetzen von oben hervorgehoben, und damit auch ihre ideologische Funktion, beispielsweise als Grundlage für Nationalismus oder Faschismus.
Rechtsextreme Ideologien stellen kollektive Identität als eine natürliche Gegebenheit dar, der Menschen sich zu unterwerfen haben. Dabei werden Menschen nach bestimmten Merkmalen, wie z.B. Sprache, homogenisiert, die Vielfalt innerhalb der „Wir”-Gruppe und Gemeinsamkeiten mit „den Anderen” geleugnet (siehe Völkischer Nationalismus).
Ein entscheidender Unterschied besteht zwischen Gruppen, die sich selbst eine kollektive Identität zuschreiben, und solchen, denen diese Identität von außen auferlegt wird. Während eine selbst gewählte kollektive Identität auf Reflexion und gemeinsamer Erfahrung basiert und häufig das Ziel der Solidarität verfolgt, kann eine aufgezwungene Identität als Machtmittel genutzt werden, um Gruppen zu kontrollieren oder ihre Vielfalt zu unterdrücken.
Siehe auch Othering