Antisemitische Übergriffe und Gewalt in Deutschland, Europa und weltweit, Hasspropaganda und Verschwörungsmythen im Internet, im rechtsextremen Spektrum und unter Islamisten, Stammtischparolen und antisemitische Ressentiments in der sog. Mitte der Gesellschaft, in den Medien und in der Politik, Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israelkritik, "Jude" als Schimpfwort unter Jugendlichen ... Viele Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen verdeutlichen die aktuelle Bedeutung von Antisemitismus und zeigen, dass Aufklärungsarbeit gegen Antisemitismus auch 60 Jahre nach der Shoah und der Befreiung Deutschlands immer noch dringend geboten ist.
Die Brisanz aktueller Erscheinungs- und Ausdrucksformen von Antisemitismus spiegelt sich nicht zuletzt wider in politischen Erklärungen auf internationaler und nationaler Ebene: Im April 2004 erklärten die Vertreter und Vertreterinnen der 55 Mitgliedsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Berliner Deklaration, dass Antisemitismus neue Formen angenommen habe und - zusammen mit anderen Formen der Intoleranz - eine Bedrohung der Demokratie, der Werte der Zivilisation und der gemeinsamen Sicherheit darstelle. Im Juni 2004 fand ein erstes Seminar der Vereinten Nationen (UN) zum Thema Antisemitismus in New York statt, in dem Generalsekretär Kofi Annan betonte, dass "wir einen alarmierenden Anstieg dieses Phänomens in neuen Formen und Manifestationen beobachten. Diesmal kann und darf die Welt nicht schweigen." Auf nationaler Ebene erklärte z.B. der französische Staatspräsident Jacques Chirac nach einem signifikanten Anstieg antisemitischer Gewalttaten in Frankreich im November 2003, wer solche Taten begehe, greife die gesamte Nation an. In Deutschland versammelte sich am 11.12.2003 der Bundestag anlässlich der sog. Hohmann-Affäre, um über antisemitische Tendenzen zu debattieren. In dem von allen Fraktionen vorgelegten Entschließungsantrag heißt es: "Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland."
Im Folgenden wird zunächst der Frage nachgegangen, was Antisemitismus eigentlich ist. Vorgestellt werden Definitionen und differenzierte Unterscheidungen, die die Diskussion um Antisemitismus bestimmen.
Unter der Rubrik "Erscheinungsformen" wird ein Überblick zum Ausmaß antisemitischer Gewalt und zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen gegeben. Darüber hinaus wird auf die Propaganda in der rechtsextremen Szene wie auch auf antisemitische Manifestationen in der gesellschaftlichen Mitte eingegangen.
Gibt es einen neuen Antisemitismus oder zeigen sich alte antisemitische Stereotype und Mythen nur in einem neuen Gewand? Dieser Frage widmet sich die Rubrik "Neu oder alt?" anhand ausgewählter Beispiele.
Unter der Rubrik "Gegenmaßnahmen" werden abschließend Ansätze einer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus vorgestellt. Dabei wird die These vertreten, dass sowohl antirassistische wie auch Diversity-Ansätze dem Phänomen Antisemitismus nur unzureichend gerecht werden.
Der Begriff "Antisemitismus" wurde Ende des 19. Jhs. in Deutschland geprägt. Er wird dem Journalisten Wilhelm Marr zugeschrieben, der mit dem Begriff seine offen erklärte Judenfeindschaft nicht religiös, sondern pseudowissenschaftlich und rassistisch zu legitimieren versuchte. Nach Marrs Gründung der "Antisemitenliga" traten Demagogen auf die politische Bühne, die Juden als ein die "nationale Einheit" bedrohendes "Volk" oder als "Rasse" konstruierten. Diese Veränderungen gegenüber früheren, religiös und sozial motivierten Formen der Judenfeindschaft betont der Antisemitismusforscher Werner Bergmann:
Zum Begriff "Antisemitismus" liegen viele unterschiedliche Definitionen vor. Auf unterschiedliche Weise - so illustrieren die nachfolgenden Beispiele - wird dabei versucht, das Phänomen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu beschreiben bzw. einzugrenzen:
Zur Beschreibung verschiedener Erscheinungsformen der Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart werden häufig differenziertere Terminologien verwendet. Als Grundphänomene sind vor allem vier hervorzuheben: Christlicher Antijudaismus, rassistischer Antisemitismus, sekundärer Antisemitismus und israelbezogener Antisemitismus.
Christlicher Antijudaismus: Das Judentum als Gegenbild zum Christentum
Der christliche Antijudaismus entwickelte sich in den ersten Jahrhunderten nach Christus. Im Kern bestand der Konflikt darin, dass das Judentum Jesus Christus nicht als Messias anerkennt. Die Dämonisierung des Judentums durch die christliche Kirche gipfelte in dem unhaltbaren Vorwurf, "Juden" seien kollektiv schuld an der Kreuzigung Jesu. Gewaltsame Übergriffe und eine Vielzahl von antijüdischen Maßnahmen der christlichen Kirche (z.B. Verbot der Ehe und der gemeinsamen Speiseeinnahme von Juden und Christen; Verbote für Juden, öffentliche Ämter zu bekleiden, christliche Knechte und Mägde zu haben, etc.) kennzeichneten das Leben von Juden und Jüdinnen, nachdem das Christentum im 4. bis 5. Jh. n. Chr. zur Staatsreligion wurde.
Mit den Kreuzzügen gegen Ende des 11. Jh. spitzte sich die Lage für die jüdische Bevölkerung in den christlichen Mehrheitsgesellschaften zu: Tausende wurden in antijüdischen Pogromen ermordet. Mit zahlreichen und weit gehenden Bestimmungen wies die Kirche der jüdischen Bevölkerung einen Status minderen Rechts (z.B. Verbot des Synagogenbaus, Verbannung in Ghettos, Ausschluss von den meisten Berufen) zu. In dieser dunklen Zeit des europäischen Mittelalters entstanden antijüdische Mythen wie die des "Ritualmordes", des "Brunnenvergiftens" oder des "Wucherers", die als antijüdische Stereotype überliefert und mehr oder weniger in der kulturellen Tradition verankert sind.
Rassistischer Antisemitismus: Entrechtung und Völkermord
Der rassistische Antisemitismus konstruiert Juden als minderwertige "Rasse", dem kontrastierend der Mythos vom "reinrassigen" und überlegenen "Arier" gegenübergestellt wird. Er geht auf die im 19. Jh. von Rassetheoretikern behauptete Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von "Menschenrassen" zurück:
Auf Grundlage der scheinbar wissenschaftlich, anthropologisch und biologistisch argumentierenden Rassetheorien wurden Juden" als "Anti-Volk" und als "volkszersetzend" ausgegrenzt und aufgrund ihrer vermeintlichen "Natur" für alle Übel verantwortlich gemacht. Die nationalsozialistische Rassentheorie knüpfte an diesen Wahn von der "Reinheit der Rasse" an und erklärte Juden zu den gefährlichsten Gegnern im "weltgeschichtlichen Endkampf". Dies mündete schließlich in der Shoah, dem Massenmord an Jüdinnen und Juden. Im Gegensatz zum Antijudaismus, dem sich Jüdinnen und Juden in der Regel durch die christliche Taufe entziehen konnten, ließ der rassistische Antisemitismus keinen Ausweg mehr. Zur Bezeichnung des NS-Völkermordes wird auch vom "eliminatorischen Antisemitismus" gesprochen.
Sekundärer Antisemitismus: Erinnerungs- und Verantwortungsabwehr
Nach 1945 ist eine neue Form des Antisemitismus entstanden, die als "sekundärer" Antisemitismus oder als "Erinnerungs-" und "Verantwortungsabwehr" bezeichnet wird. Während "klassischer" oder "primärer" Antisemitismus alle traditionell auf Jüdinnen und Juden bezogenen Stereotype und Vorurteile umfasst, gründet sekundärer Antisemitismus - angesichts des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden - auf Gefühlen der Scham und Schuld. Es ist ein Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Er zeigt sich, wenn der nationalsozialistische Massenmord geleugnet, relativiert oder bagatellisiert wird, wenn Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen abgelehnt werden oder wenn gefordert wird, dass endlich ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen sei.
"Wie lange man noch büßen müsse, ob die unschuldigen Enkel noch für den Holocaust zahlen sollten, lauten die Schlachtrufe, und die Vermutung, ‚die Juden' würden sich am Völkermord bereichern, weil sie eben mit allem Geschäfte machen würden, gehört ins Arsenal der Abwehr und der Selbstbeschwichtigung." (Benz 2002, S. 5)
Die Abwehr von Erinnerung und Verantwortung geht häufig mit einer Umkehr von Tätern und Opfern einher. Umfragen zeigen, dass viele Menschen in Deutschland Juden und Jüdinnen eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zuschreiben. Unterstellt wird, dass Juden ihre Leiden benutzen, um hohe Entschädigungsgelder zu erhalten. Und viele lasten Juden an, dass sie mit der Erinnerung an den Holocaust an den Teil deutscher Geschichte gemahnen, den viele gerne vergessen würden. Die Paradoxie dieses Verleugnungsprozesses hat der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen."
Israelbezogener Antisemitismus: Projektionsfläche Nahostkonflikt
Seit der Gründung des Staates Israel entwickelte sich eine weitere Facette des Antisemitismus. Diese zeigt sich deutlich, wenn Abneigungen gegenüber "den Juden" mit der israelischen Politik im palästinensisch-israelischen Konflikt gerechtfertigt werden und Stellungnahmen zu Israel mit klassischen antisemitischen Vorurteilen über "die Juden" als Kollektiv einhergehen oder von pauschalen Angriffen gegen "die Juden" als Verkörperung allen Übels begleitet werden.
Zumindest teilweise ist der auf Israel bezogene Antisemitismus dem sekundären Antisemitismus zuzuordnen. So spiegelt sich das Motiv der Verantwortungs- und Erinnerungsabwehr in den zahlreichen Vergleichen von israelischer Politik und NS-Diktatur wider: "Die Palästinenser" werden als die "Juden des Nahen Ostens" bezeichnet, Maßnahmen der israelischen Armee werden mit der SS gleichgesetzt und jeder Zweite in Deutschland meint, dass die israelische Politik gegenüber Palästinensern und Palästinenserinnen "im Prinzip auch nichts anderes" ist als der NS-Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Mit solchen Vergleichen werden die NS-Verbrechen verharmlost und findet gleichzeitig eine Täter-Opfer-Umkehr statt.
Antisemiten reagieren häufig mit der Behauptung, man dürfe in Deutschland ja Israel nicht kritisieren. Da schwingt die Behauptung mit, es gäbe eine "von Juden" ausgeübte Zensur der öffentlichen Meinung. Dieser Vorwurf ist absurd und hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, aber viel mit dem klassischen antisemitischen Vorurteil von der "Macht der Juden": Die Medien in Deutschland - so zeigen verschiedene Studien - berichten vor allem kritisch über Israel und den Nahost-Konflikt und zeichnen eher ein negatives Bild von Israel und dem Konflikt. Demgegenüber wird vergleichsweise wenig über Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern berichtet und viele Menschen, die sich über Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten entsetzt zeigen, sind gleichgültig gegenüber solchen Entwicklungen in anderen Gegenden der Welt.
Gewaltsame Übergriffe und Beleidigungen von Juden und Jüdinnen auf offener Straße, Angriffe gegen Repräsentanten des Judentums, Brandanschläge auf Synagogen und israelische Einrichtungen, Schändungen jüdischer Friedhöfe ... Derartige offene Formen des Antisemitismus haben in Deutschland auch 60 Jahre nach der Shoah erschreckende Ausmaße. Jüdische und israelische Einrichtungen müssen in Deutschland unter Polizeischutz gestellt werden. Nicht zuletzt dies weist auf das Gefahrenpotential hin, dem Juden und Jüdinnen alltäglich ausgesetzt sind.
Die jährlich vom Bundesamt für Verfassungsschutz veröffentlichen Daten verdeutlichen, dass insbesondere seit dem Jahr 2000 antisemitisch motivierte Übergriffe und Gewalt in Deutschland erheblich zugenommen haben. Für das Jahr 2004 wurden bundesweit 1316 antisemitische Straftaten registriert. Zu den Straftaten zählen vor allem Beleidigungen, Volksverhetzung und Propagandadelikte sowie Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten. Fast jeden dritten Tag kam es in den Jahren 2003 und 2004 zu Übergriffen auf jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten. Zu berücksichtigen ist bei den Zahlen, dass in die amtliche Statistik nur Vorfälle Eingang finden, die auch angezeigt werden. Die offiziellen Zahlen spiegeln damit nur den unteren Bereich antisemitischer Delikte wider - die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Deutlich zugenommen haben in den letzten Jahren antisemitisch motivierte Gewalttaten, d.h. schwerste Delikte wie Körperverletzungen, (versuchte) Tötung oder Brandanschläge. Mit insgesamt 37 Gewalttaten wurde 2004 ein weiterer signifikanter Anstieg festgestellt.
Auf eine brisante Zunahme antisemitischer Handlungen in Europa machten 2003 und 2004 zwei Studien aufmerksam, die im Auftrag der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) erstellt wurden. In der ersten Studie (Manifestations of anti-Semitism in the European Union - First Semester 2002 - Synthesis Report) registrierten Werner Bergmann und Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin für das Frühjahr 2002 eine Zunahme antisemitischer Gewalt in vielen EU-Mitgliedsstaaten. Diese antisemitische Welle - so die Ergebnisse dieser Studie - verlief parallel zur Eskalation im palästinensisch-israelischen Konflikt und war in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien am deutlichsten zu spüren. In Ländern wie Deutschland, Österreich und Italien wurden vor allem verbale Angriffe und Beleidigungen gegen Juden und Jüdinnen festgestellt. Im März 2004 erschien der EUMC-Report Manifestations of Antisemitism in the EU 2002-2003, der ebenfalls eine Zunahme von Antisemitismus in einigen Teilen der EU verzeichnete. Unterschiedliche Antworten geben beide Studien auf die Frage, welche Gruppen sich offen antisemitisch zeigen. Während Bergmann und Wetzel sowohl Rechtsextreme wie auch junge Muslime meist arabischer Herkunft als Täter und Täterinnen identifizierten, machte der offizielle zweite Report des EUMC als größte Gruppe vor allem "junge weiße Europäer" aus, die gesellschaftlich ausgegrenzt und oft von rechtsextremistischen Gruppierungen beeinflusst seien. Diese unterschiedlichen Einschätzungen lösten eine kontroverse Diskussion über die Bedeutung antisemitischer Tendenzen unter islamischen oder arabischen Migranten und Migrantinnen aus, die aufgrund einer unzureichenden Beobachtung antisemitisch motivierter Taten allerdings ohne zuverlässige Daten geführt wurde. Bis heute gibt es keine empirische Studie, die einen differenzierten Blick auf das Täterspektrum antisemitischer Gewalt bietet.
In Deutschland betonen Verfassungsschutzbehörden vor allem den rechtsextremistischen Hintergrund antisemitischer Übergriffe und Gewalt. Mit Hinweis auf die Tatsache, dass viele Delikte unaufgeklärt bleiben, wird neuerdings aber auch ein anderes Täterspektrum in Betracht gezogen. So wird in einer Broschüre des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom November 2005 ausgeführt:
Antisemitische Einstellungen
Rund jede(r) fünfte Deutsche ist antisemitisch eingestellt - so können die Ergebnisse aktueller Studien zusammengefasst werden. Im Einzelnen schwanken die Resultate, die in Umfragen z.B. des Meinungsforschungsinstituts Forsa und im Rahmen der Studie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) ermittelt wurden, zwischen 15 und 23%.
Wenn man die Langzeitentwicklung nach 1945 betrachtet, so lässt sich insgesamt ein deutlicher Rückgang antisemitischer Einstellungen feststellen. Weil es immer die Älteren und Betagten waren, die in Meinungsumfragen überdurchschnittlich häufig antisemitische Vorurteile äußerten, ging man lange davon aus, dass sich die Zahl antisemitisch eingestellter Menschen aufgrund der Gesetze der Natur kontinuierlich weiter verringern würde. Dies scheint aber neueren Erhebungen zufolge nicht der Fall zu sein.
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat 1998 und 2003 repräsentative Umfragen mit identischen Fragen durchgeführt und kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Anteil der Deutschen mit antisemitischen Einstellungen in diesem Zeitraum von 20 auf 23% gestiegen ist. Die Differenzierung nach dem Alter zeigte, dass antisemitische Einstellungen bei den Älteren (65 Jahre und älter) nach wie vor am stärksten vertreten sind. Die Jüngeren, in dieser Befragung 14- bis 24-Jährige, liegen deutlich unter dem Durchschnitt. Die Umfrageergebnisse zeigen aber auch eine Zunahme antisemitischer Einstellungen bei dieser jüngeren Altersgruppe von 10% (1998) auf 13% (2003). Ob die ermittelte Zunahme antisemitischer Einstellungen in Deutschland tatsächlich auf eine Trendwende hindeutet, ist noch mit einem Fragezeichen zu versehen, weil bei der Forsa-Befragung sog. Periodeneffekte zum Tragen gekommen sein könnten: Die Befragung wurde im November 2003 durchgeführt, zu dem Zeitpunkt, als das Thema Antisemitismus aufgrund der Rede des CDU-Politikers Hohmann um ein vermeintliches Tätervolk gerade in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Derartige öffentliche Skandale und Kontroversen haben schon häufig zu einem Anstieg antisemitischer Vorurteile geführt - ein Anstieg, der aber nur vorübergehend war.
Interessant ist ein genauer Blick auf einzelne Fragen und Antworten der Forsa-Studie. Deutlich negativer geworden ist das Antwortverhalten nur bei zwei gestellten Fragen. Es ist erstens die Frage zur Loyalität von Juden gegenüber Israel bzw. dem Land, in dem sie leben. Zweitens ist es die Frage nach dem weltweiten Einfluss von Juden. Dieses Ergebnis deutet an, dass hier der Nahost-Konflikt Wirkung zeigt und sich der Antisemitismus möglicherweise eine neue Projektionsfläche sucht. Darüber hinaus weist es auf das Bestehen von weit verbreiteten diffusen Vorstellungen über angebliche Machteinflüsse hin, die eine Grundlage für antisemitische Verschwörungsmythen darstellen können.
Sind Sie der Meinung, die folgenden Äußerungen treffen zu? | ||||
Befragte 2003 | Befragte 1998 | 14- bis 24-Jährige | 65 Jahre und älter | |
Viele Juden versuchen aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen | 36 | 41 | 25 | 51 |
Juden fühlen sich in erster Linie mit Israel verbunden. Sie interessieren sich nur am Rande für die Angelegenheiten des Landes, in dem sie leben | 35 | 25 | 24 | 50 |
Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss | 28 | 21 | 14 | 42 |
Man kann Juden an ihrem Aussehen erkennen | 18 | 18 | 11 | 27 |
Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihrer Verfolgung nicht ganz unschuldig | 19 | 17 | 14 | 29 |
Juden haben etwas Besonderes und Eingentümliches an sich und passen deshalb nicht zu uns | 17 | 18 | 11 | 26 |
Antisemitische und israelkritische Einstellungen | ||
Konstrukte und Itemformulierungen | Stimme voll und ganz zu | Stimme eher zu |
Klassischer Antisemitismus | ||
Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss. | 10,6 | 10,9 |
Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig. | 6,3 | 11,1 |
Sekundärer Antisemitismus | ||
Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen | 20,0 | 25,2 |
Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden. | 44,5 | 23,8 |
Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören. | 41,3 | 20,9 |
Israelbezogener Antisemitismus | ||
Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer. | 12,6 | 19,1 |
Bei der Politik, die Israel macht kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat | 15,5 | 28,9 |
Antisemitische Separation | ||
Die deutschen Juden fühlen sich stärker mit Israel als mit Deutschland verbunden. | 21,9 | 33,7 |
Die Juden hierzulande interessieren sich mehr für israelische als für deutsche Angelegenheiten | 18,6 | 29,2 |
NS-vergleichende Israelkritik | ||
Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. | 35,1 | 33,2 |
Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben. | 27,3 | 23,9 |
Israelkritische Einstellung/Nicht-antisemitische Israelkritik | ||
Ich werde wütend, wenn ich daran denke, wie Israel die Palästinenser behandelt. | 44,4 | 37,5 |
Es ist ungerecht, dass Israel den Palästinensern Land wegnimmt | 51,5 | 34,5 |
Antisemitismus im aktuellen Rechtsextremismus
Antisemitismus ist neben Nationalismus, Rassismus, Demokratiefeindlichkeit und völkischem Denken ein wesentliches Ideologieelement des Rechtsextremismus. Meinungsumfragen und empirische Studien zeigen immer wieder, dass Mitglieder, Wähler und Wählerinnen sowie Sympathisanten rechtsextremer Parteien überdurchschnittlich stark antisemitischen Vorurteilen zustimmen und gegen Juden gerichtete Ressentiments äußern. Im Verlauf der 1990er und insbesondere in den letzten Jahren konnte eine zunehmende antisemitische Propaganda in der rechtsextremen Szene beobachtet werden. Rechtsextreme Propaganda umfasst alle Formen des Antisemitismus: Das Spektrum reicht von rassistischen Feindbild-Konstruktionen und Angriffen auf das Judentum als Religion über die Leugnung, Verharmlosung und Rechtfertigung der NS-Verbrechen bis zu Weltverschwörungsideologien und Feindschaft gegen den Staat Israel, der mit "den Juden" gleichgesetzt wird.
Dabei handelt es sich aber nur teilweise um offene und justiziable Agitation und Hetze. Offener Antisemitismus, der bis hin zur Verherrlichung des NS-Völkermordes und der Aufforderung zur Gewalt reichen kann, findet sich vor allem dort, wo sich die Urheber in der Anonymität verschanzen können bzw. vor Strafverfolgung sicher glauben. Dazu gehören nicht namentlich gekennzeichnete Pamphlete, Reden auf nicht öffentlichen Veranstaltungen, neonazistische Internetseiten bei ausländischen Providern sowie Texte rechtsextremer Bands, die im Ausland produziert und nur unter dem Ladentisch einschlägiger Unternehmen verkauft werden. Daneben gibt es einzelne Personen, die unverhohlen gegen Juden hetzen - so etwa Horst Mahler, der den Massenmord an den europäischen Juden leugnet und in dessen wirrem Denken Demokratie und Menschenrechte als "jüdisches Prinzip" abgelehnt werden. Andere Beispiele sind Manfred Roeder, ein Altnazi und notorischer Holocaust-Leugner, oder der Holocaust-Leugner Ernst Zündel, der seine antisemitische Hetze insbesondere über das Internet verbreitet hat.
Antisemitismus in der rechtsextremen Szene ist zu einem großen Teil ein Antisemitismus der Anspielungen und Andeutungen. Zur Strategie zählt dabei, gesellschaftlich diskutierte Themen wie die angemessene Erinnerung an die NS-Verbrechen oder den israelisch-palästinensischen Konflikt aufzugreifen, um sie für die Aktivierung bzw. Verstärkung antisemitischer Ressentiments zu nutzen. So wird - unter Vermeidung strafrechtlich relevanter Äußerungen - z.B. der Mord an den europäischen Juden relativiert, in dem der Begriff "Holocaust" immer wieder für andere Sachverhalte benutzt wird: Da ist die Rede vom "alliierten Bomben-Holocaust", vom "Atombomben-Holocaust" oder von einer angeblichen Vergleichbarkeit des Völkermordes an den Juden mit dem Schicksal der Palästinenser. Neben der immer wieder beschworenen Parallelität zwischen NS-Verbrechen und israelischer Politik werden unter dem Deckmantel angeblicher Israelkritik klassische antisemitische Vorurteile und Legenden ("Macht der Juden", "Weltverschwörung") transportiert. Zur Verschleierung wird z.B. auf Chiffren und Codes wie "Ostküste", "USrael" oder "ZOG" (für "Zionist Occupied Government") zurückgegriffen, die für Eingeweihte sofort verständlich sind. Ohne es auszusprechen, wird mit solchen Begriffen der Mythos einer jüdischen bzw. jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung aufgerufen. Deutlicher wurde es auf dem Bundesparteitag der NPD im Oktober 2004. Dort waren Plakate ausgestellt, bei denen das ZDF als "Zionistische Desinformations-Fabrik" bezeichnet und die USA als "Jew ess ey" buchstabiert wurden. Völlig verharmlosend kommentierte NPD-Sprecher Klaus Beier, dies fiele "unter die Rubrik Humor, wenn man diese Art Humor denn versteht". (Spiegel Online v. 30.10.2004)
In Publikationen der rechtsextremen Parteien DVU und NPD erscheinen strafrechtlich relevante Behauptungen stets formal distanziert - in Form von Zitaten, indirekter Rede oder in Frageform. Scheinheilige Fragen in den Schlagzeilen zu stellen, ist eine bevorzugte Strategie der National-Zeitung (DVU): "Ist Kritik an Juden grundsätzlich verboten?", "Sollen wir ewig büßen? Der wahre Sinn des Holocaust-Mahnmals", "Steckt Israel hinter Amerikas Kriegen?", "So mächtig ist die Israel-Lobby - Kann sie jeden Politiker vernichten?", "Sharon - der neue Weltenherrscher?" Mit solchen Formulierungen wird in der DVU-Publikation die Existenz einer einflussreichen jüdischen Macht hinter den Kulissen angedeutet. Auch wenn die entsprechenden Artikel nicht immer klare Aussagen bezüglich derartiger Argumentationsmuster enthalten, mit den Schlagzeilen suggeriert die National-Zeitung den entsprechend disponierten Lesern und Leserinnen eine bejahende Antwort. Auch im NPD-Organ Deutsche Stimme werden mehr oder weniger deutlich antisemitische Ressentiments bedient: So, wenn vom "permanenten geistigen Kniefall vor Repräsentanten des deutschen Judentums" geredet wird oder der Mythos vom weltweiten Einfluss der Juden beschworen wird ("die unverschämten Forderungen der zionistischen Lobby, ...die immer skrupelloser von der amerikanischen Ostküste vertretenen Weltherrschaftsgelüste"), um ihn unmittelbar auch gegen Mitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland zu wenden.
Antisemitische Ressentiments in der sog. Mitte der Gesellschaft
Antisemitismus ist kein Phänomen, das nur im rechtsextremen Spektrum zu verorten ist. Antisemitische Ressentiments - das verdeutlichen die bereits zitierten repräsentativen Meinungsumfragen - sind vielmehr in der gesamten Bevölkerung verbreitet. Antisemitismusforscher wie Wolfgang Benz oder Lars Rensmann fokussieren dementsprechend das alltägliche Vorurteil der Mehrheit gegen die Minderheit bzw. die Verankerung des Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wirft man den Blick zurück auf die letzten Jahre, so scheint der lange in der Öffentlichkeit vorherrschende Grundkonsens gegen Antisemitismus zu bröckeln. Die Hemmschwellen, Ressentiments gegenüber Juden in der Öffentlichkeit zu äußern bzw. zu bedienen, sinken - dies offenbarten nicht zuletzt die Reaktionen und Debatten im Zusammenhang mit der Friedenpreis-Rede Martin Walsers, der Karsli-Möllemann Affäre und dem Skandal um Martin Hohmann.
Die Rede, die der Schriftsteller Martin Walser 1998 anlässlich der Verleihung des Friedenpreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche hielt, und die sich daran anschließende öffentliche Debatte über die Bedeutung der Erinnerung an die NS-Verbrechen markieren eine Zäsur. Erstmalig plädierte ein Prominenter in aller Öffentlichkeit für die Entsorgung der NS-Vergangenheit - mit einem Vokabular, das bis dato vor allem Rechtsextreme benutzten - und erntete damit fast uneingeschränkten Applaus des Auditoriums. Wörtlich hatte Walser vom "grausamen Erinnerungsdienst", von der "Dauerpräsentation unserer Schande", der "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken" und von Auschwitz als "jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" gesprochen. Ignatz Bubis, damaliger Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, bezeichnete Walser darauf hin als "geistigen Brandstifter", der Rechtsextremen ein Feld bereite. Er warb für das Nicht-Vergessen auch der dunklen Kapitel der deutschen Geschichte, für eine Kultur des Nicht-Wegschauens und Nicht-Wegdenkens, damit sich derart Schreckliches niemals wiederholen möge. Mit derartigen Appellen blieb Bubis in der sich anschließenden öffentlichen Debatte aber nicht nur weitgehend allein, er wurde auch selbst Ziel aggressiver Abwehrreaktionen.
Im Frühjahr 2002 löste Jamal Karsli, ehemaliger Landtagsabgeordneter von Bündnis90/Die Grünen in NRW, den sog. "Antisemitismus-Streit" aus. In einer Pressemitteilung unter dem Titel "Israelisches Militär wendet Nazi-Methoden an" bediente er zahlreiche antisemitische Klischees (z.B. das von der "jüdischen Brunnenvergiftung"). In einem Interview mit dem neurechten Blatt "Junge Freiheit" beschwor er dann offen den Mythos einer antisemitischen Weltverschwörung. Wörtlich sagte er, die "zionistische Lobby" habe "den größten Teil der Medienmacht in der Welt inne und könne jede auch noch so bedeutende Persönlichkeit klein kriegen." Jürgen W. Möllemann, damals stellvertretender FDP-Bundes- und NRW-Landesvorsitzender, unterstützte den Übertritt Karslis in die FDP und nahm diesen gegen die öffentliche Kritik in Schutz. Darüber hinaus instrumentalisierte er den Fall Karsli im Bundestags-Wahlkampf 2002: Er stellte die absurde Behauptung auf, es gäbe ein Verbot, Kritik an Israel zu üben, und inszenierte sich selbst als Tabubrecher. Erst rechtfertigte er offen Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten, dann machte er das Auftreten prominenter Juden in Deutschland für das Erstarken des Antisemitismus verantwortlich und schließlich bemühte er in seinem Buch "Klartext" den Mythos von der "jüdischen Macht", um seinen Niedergang und Fall in der eigenen Partei zu erklären.
Mit dem Mythos von einer weltweit operierenden "zionistischen Lobby", dem Gerede von "Meinungswächtern" und "Denkverboten" sowie der Beschuldigung, Juden seien für den Antisemitismus verantwortlich, kehrten klassische antisemitische Topoi in die öffentliche Auseinandersetzung zurück, die nicht nur das rechtsextreme Spektrum zu massiven Angriffen auf den Zentralrat der Juden in Deutschland nutzte. Für den Tod Möllemanns machten Antisemiten wiederum "die Juden" verantwortlich: Antisemitische Verschwörungslegenden hatten in den diversen Internetforen Hochkonjunktur. Jamal Karsli propagiert sein antisemitisches Weltbild bis heute: Ein Buch zur angeblich fehlenden Meinungsfreiheit in Deutschland präsentierte er Mitte 2005 im syrischen Fernsehen mit den Worten: "Mit diesem Buch möchte ich der Welt zeigen, welche Rolle die zionistische Lobby in Deutschland spielt und welchen Einfluss sie auf [politische] Entscheidungen hat." (MEMRI Spezial Dispatch, 1.7.2005)
"Tätervolk" - das ist das Unwort des Jahres 2003 und es verbindet sich unweigerlich mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann. Dieser hielt am 3.10.2003 in seiner Heimatstadt Neuhof bei Fulda eine von verquast-religiösen, antisemitischen und völkischen Vorstellungen geprägte Rede, in der er "die Juden" in Verbindung brachte mit dem Begriff "Tätervolk". Die Rede hatte die örtliche CDU ins Internet gestellt, sonst hätte sie wohl nie eine über das Lokale hinausgehende Öffentlichkeit gefunden. In der folgenden Debatte, die schließlich zum Ausschluss Hohmanns aus der CDU führte, wurden die Inhalte der Rede kaum diskutiert. In der medialen Öffentlichkeit wurde zumeist nur von der "als antisemitisch kritisierten Rede" gesprochen. Eine viel deutlichere und auf eine Analyse der Rede gestützte Bewertung lieferte Wolfgang Benz:
Hohmanns Rede unter dem Motto "Gerechtigkeit für Deutschland" begann mit Klagen über Ausländerkriminalität, den Sozialstaat ausnutzenden "Schmarotzern", Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter und dem Fazit: "Erst kommen die anderen, dann wir." Zur Erklärung der vermeintlichen Schlechterbehandlung von "normalen Deutschen" bemühte er dann die deutsche Geschichte und den angeblichen Vorwurf, die Deutschen seien das "Tätervolk". Auf Grundlage dieser von Rechtsextremen und Deutschnationalen propagierten Konstruktion machte er dann das "jüdische Volk" als Täter aus. Mit ausführlichen Zitaten aus antisemitischen Machwerken versuchte er, den Bolschewismus als jüdische Erfindung darzustellen. Damit rief Hohmann eine Metapher auf, die in der nationalsozialistischen Propaganda von zentraler Bedeutung war. Als Beleg für seine Behauptungen berief er sich u.a. auf Henry Ford, einem Bewunderer Adolf Hitlers, der in den 1920er Jahren eine Schrift herausgegeben hatte, die auf den gefälschten antisemitischen "Protokollen der Weisen von Zion" beruhte und im nationalsozialistischen Deutschland reißenden Absatz gefunden hatte.
Nach Bekannt werden der Rede äußerten viele Gleichgesinnte in Leserbriefen und Mails Verständnis und Zustimmung für Hohmann. Auf welchen Resonanzboden die Äußerungen Hohmanns trafen, spiegelte sich z.B. im Internetforum der CDU im November 2003 wider: Neben Schlussstrich-Forderungen und Relativierungen der NS-Verbrechen wurde hier immer wieder der Mythos von der "jüdischen Macht" beschworen, die angeblich eine freie Meinungsäußerung behindere. Nicht wenige meinten artikulieren zu müssen, dass "kritische Äußerungen gegenüber jüdischen Mitmenschen bestraft" würden oder man sich nicht mehr trauen dürfe "etwas gegen Juden bzw. den Staat Israel zu sagen!".
Seit der Zunahme antisemitischer Gewalt in Europa, der Eskalation des Nahostkonfliktes und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wird viel von einem sog. "neuen" Antisemitismus gesprochen. Zumeist wird dahinter ein Fragezeichen gesetzt und dies zu Recht: In der Debatte um einen vermeintlich "neuen" Antisemitismus wird auf unterschiedliche aktuelle Phänomene Bezug genommen und ihre jeweilige Qualität ist umstritten. Was der jeweils gemeinte "alte" Antisemitismus gewesen sei, wechselt dabei ebenso wie die Gewichtung von "altem" gegenüber "neuem" Antisemitismus. Die Debatte ist teilweise emotionalisiert und politisiert und allzu oft finden generalisierende Zuschreibungen und vorschnelle Verallgemeinerungen statt.
Was meint "neuer" Antisemitismus? Im Kern dreht sich die Debatte um den Nahost-Konflikt bzw. Israel als Projektionsfläche des Antisemitismus. Manche betonen eine darüber hinausgehende globale Dimension und sprechen in einem Atemzug von "Antisemitismus und Antiamerikanismus" oder einer - auf den Ost-West-Konflikt folgenden - neuen drohenden Zweiteilung der Welt zwischen USA und Israel einerseits und der islamischen Welt andererseits. Mit solchen Szenarien werden dualistische Weltdeutungsmuster reaktiviert und der Rest der Welt verbleibt irgendwo im Niemandsland.
Werner Bergmann hat 2005 für die Zeitschrift Das Parlament den Versuch unternommen, die Thesen vom "neuen" Antisemitismus in drei Hauptströmungen zusammenzufassen:
Israelkritik und/oder Antisemitismus
In der bundesdeutschen Rezeption dieser Debatte spielte - nicht zuletzt wegen der Möllemann/Karsli-Affäre und der Instrumentalisierung des Nahost-Konfliktes durch Rechtsextreme - die Frage eine besondere Rolle, ob bzw. wann mit Kritik an Israel die Grenze zum Antisemitismus überschritten wird. Hierzu lassen sich mittlerweile einige weitgehend akzeptierte Essentials formulieren:
Israelkritik ist selbstverständlich nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen, weil es völlig legitim ist, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Gleichzeitig gilt aber auch, dass Antisemiten und Antisemitinnen ihre Feindschaft gegenüber Juden hinter Kritik an Israel zu verbergen suchen und in manchen Äußerungen zum Nahost-Konflikt die Grenze zwischen Kritik und Antisemitismus deutlich überschritten wird. Wer Antipathien gegenüber Juden und Jüdinnen mit der Politik Israels rechtfertigt äußert sich deutlich antisemitisch. Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israelkritik oder Kritik mit antisemitischen Untertönen wird darüber hinaus z.B. deutlich, wenn:
Ob im konkreten Fall die Grenze zum Antisemitismus überschritten wird, hängt nicht zuletzt vom Kontext und der Absicht der jeweiligen Person ab:
Holocaustleugnung und Verschwörungsmythen
Antisemitismus ist in arabischen und islamischen Staaten weit verbreitet. Für internationale Schlagzeilen sorgte z.B. Mohamad Mahatir, Premierminister von Malaysia, der 2003 auf der zehnten Gipfelkonferenz islamischer Staaten unter großem Beifall den Mythos von der jüdischen Weltverschwörung beschwor. Ein anderes Beispiel sind die massiven Angriffe des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad im Dezember 2005, der zur Auslöschung des "Brandmals" Israels aufrief, den Holocaust leugnete und dessen Rede von "Tod den Juden"-Parolen begleitet wurde.
Immer wieder wird von Regierungsmitgliedern und in staatlichen Medien, in Syrien, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien oder dem Iran, die Behauptung verbreitet, der Holocaust sei eine jüdische Erfindung, die nur dazu diene, den Staat Israel zu legitimieren und weltweite Unterstützung für "die Juden" zu erhalten. Mit dieser Leugnung des Holocaust zeigt sich eine deutliche Schnittstelle mit der antisemitischen Propaganda im Rechtsextremismus. Manchmal wird dabei auch direkt der Bogen nach Deutschland gespannt: So formulierte der Mufti von Jerusalem, Sheikh Ikrima Sabri, in einem Interview mit der New York Times: "Die Juden benutzen dieses Thema in vielerlei Hinsicht, auch um die Deutschen finanziell zu erpressen."
Besorgniserregend ist insbesondere die Verbreitung antisemitischer Verschwörungslegenden. Oft wird dabei direkt Bezug genommen auf die sog. "Protokolle der Weisen von Zion". Obwohl bereits in den 1920er Jahren nachgewiesen wurde, dass es sich bei diesem antisemitischen Machwerk um eine Fälschung handelt, verweisen Antisemiten und Antisemitinnen seit rund 100 Jahren immer wieder auf die "Protokolle", um den Mythos einer angeblich geheimen "weltweiten Macht der Juden" zu beschwören. Im Kontext des palästinensch-israelischen Konfliktes dient der Mythos der Rechtfertigung des Kampfes gegen Israel: Arabische Politiker bezogen sich in aller Öffentlichkeit auf die "Protokolle", Zeitungen und Zeitschriften halten den Mythos wach und Organisationen wie die Hamas berufen sich in ihrer Charta auf das angebliche Komplott. Wie verbreitet die Legende ist, zeigen nicht zuletzt einfach gestrickte, mehrteilige Fernseh-Serien wie die Produktion "Reiter ohne Pferd", die sich in arabischen Ländern an ein Millionenpublikum wenden.
Parallelen zwischen rechtsextremistischer und islamistischer Propaganda wurden nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center am 11.9.2001 deutlich, als Gerüchte über angebliche Verstrickungen des israelischen Geheimdienstes, "der Israelis" oder "der Juden" Hochkonjunktur hatten. Selbst die Ende 2004 durch ein Erd- und Seebeben ausgelöste Flutkatastrophe in Südostasien wurde antisemitisch gedeutet: Sowohl in arabischen Medien wie auch im rechtsextremen und NPD-nahen Spektrum in Deutschland wurde orakelt, Auslöser des Tsunami könnte ein Atombombentest der USA und Israels gewesen sein. Gerüchte und Beschuldigungen dieser Art finden insbesondere über das Internet ein weit über das jeweilige ideologische Spektrum hinausgehendes Publikum.
Vorwürfe gegen die Antiglobalisierungsbewegung
In die Kritik geraten ist - neben einigen zahlenmäßig kleinen Gruppen der extremen Linken - auch die globalisierungskritische Bewegung Attac. Hier finden sich antisemitische Elemente vor allem im Kontext der Kritik Israels als imperialistische und kolonialistische Macht und der Palästina-Solidarität. Astrid Kraus, Mitglied des Koordinierungskreises von Attac Deutschland, erläuterte in einem Interview mit der Zeitschrift Jungle World:
Für Schlagzeilen sorgte etwa die von Globalisierungskritikern organisierte Demonstration gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos (2003), bei der der damalige US-amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld mit einem Davidstern nach NS-Machart gekennzeichnet worden war. Ein anderes Beispiel ist die Attac-interne "AG Globalisierung und Krieg", deren Aktivisten das Vorgehen der israelischen Armee in palästinensischen Flüchtlingslagern mit den NS-Verbrechen im Warschauer Ghetto gleichgesetzt und zum Boykott von Waren aus jüdischen Siedlungen aufgerufen hatten.
Im Rahmen einer selbstkritischen Diskussion hat sich Attac mittlerweile von Antisemitismus in den eigenen Reihen distanziert und eine Aufklärungsarbeit gegen Antisemitismus eingeleitet. "Antisemitismus hat in Attac keinen Platz" - so formulierte beispielsweise Peter Wahl in einer Einleitung zu einem Reader von Attac zur Antisemitismusdiskussion: Angemahnt wurde hier eine sachliche und produktive Diskussion, die einerseits politische Lernprozesse ermöglicht, andererseits aber auch deutliche Grenzen der Offenheit setzt: "Dort wo bei einzelnen Personen manifeste Formen von Antisemitismus auftreten, ist mit aller Klarheit die Trennung von diesen zu vollziehen." Deutliche Stellungnahmen zum Nahost-Konflikt hat Attac Deutschland formuliert, so auf dem sog. Aachener Ratschlag im Oktober 2003:
Neben dem Existenzrecht Israels gehört das Recht der Palästinenser und Palästinenserinnen auf einen eigenen Staat im Gaza-Strafen und der Westbank sowie die gewaltfreie Lösung des Konfliktes zu den Grundpositionen von Attac. Auch wenn einzelne Attac-Mitglieder immer wieder durch unzulässige Vergleiche zwischen der Palästina-Politik Israels und den NS-Verbrechen auffallen, wendet sich Attac zu Recht gegen pauschale Vorwürfe, die in totalitarismustheoretischer Manier Globalisierungskritiker in einen Topf werfen mit Rechtsextremen und dies dann als "neuen Antisemitismus" ausgeben. Dies gilt ebenso für die pauschale Gleichsetzung von Antiamerikanismus mit Antisemitismus:
Das alltägliche Ressentiment nicht aus dem Blick verlieren
Die Debatte um einen "neuen" Antisemitismus wirft den Blick auf neue Trägerschichten, das Internet als Vermittlungsweg und ideologischen Schnittstellen. Die dabei verwendeten Stereotypen und antisemitischen Argumentationsmuster sind allerdings nicht neu. Sie knüpfen vielmehr an altbekannte antisemitische Deutungsmuster des christlichen Antijudaismus und des modernen, im 19. Jh. entstandenen, Antisemitismus an.
Die Diskussion um solche neuen Erscheinungsformen ist wichtig und notwendig, sie darf aber nicht dazu führen, dass das alltägliche Ressentiment gegenüber Jüdinnen und Juden aus dem Blick gerät. Antisemitismus in Deutschland - so hat es der Publizist Lothar Baier formuliert - kommt oft "auf leisen Sohlen" daher. Für die Ausgrenzung von Juden und Jüdinnen aus der konstruierten Wir-Gemeinschaft liefert er ein plastisches Beispiel:
Die Ächtung der im NS-Regime propagierten Judenfeindschaft und die Tabuisierung von Antisemitismus gehörten nach 1945 zu den Gründungsvoraussetzungen der Bundesrepublik Deutschland. Wer sich als Person des öffentlichen Lebens antisemitisch äußerte, der oder die riskierte (zumindest vorübergehend) Amt und Karriere. Bildungsarbeit gegen Antisemitismus etablierte sich in der Bundesrepublik durch die sog. Holocaust-Erziehung, die an Schulen bis heute vor allem im Rahmen des Unterrichtsfaches Geschichte die Entrechtung und den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden thematisiert. So wichtig und notwendig diese Aufklärungsarbeit ist, sie allein ist unzureichend, weil sie vor allem den rassistischen und eliminatorischen Antisemitismus zum Gegenstand hat, wichtige andere Facetten von Antisemitismus ausblendet und Juden und Jüdinnen darüber hinaus vor allem als Opfer der deutschen Geschichte erscheinen lässt. Auf grundlegende Defizite im Schulbereich hat insbesondere das Leo-Baeck-Institut hingewiesen:
Eine Form der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus ist die vom Leo-Baeck-Institut herausgegebene Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit, die deutlich macht, dass Juden und Jüdinnen integraler Bestandteil deutscher Geschichte sind und diese aktiv mitgestaltet haben. Auf Grundlage der konstatierten Defizite plädiert das Institut dabei insbesondere für einen Perspektivenwechsel in folgenden fünf Kernpunkten:
Insbesondere mit Blick auf antisemitische Übergriffe und Vorurteile sind Ansätze aus der Antirassismus-Arbeit und der Menschenrechtspädagogik nützlich, insofern sie grundsätzlich auf Wir-Ihr-Konstruktionen und Ausgrenzungspraktiken aufmerksam machen und die Bedeutung menschenrechtlicher Prinzipien verdeutlichen. Mehr und mehr setzt sich aber der Gedanke durch, dass Antisemitismus aufgrund seiner spezifischen Erscheinungsformen als eigenständiges Problem wahrzunehmen ist und nicht lediglich unter Maßnahmen gegen Rassismus und Diskriminierung subsumiert werden kann.
Hinsichtlich der Ausgestaltung einer konkreten Bildungsarbeit gegen Antisemitismus gibt es bislang keine Patentrezepte. Während es in der antirassistischen Bildungsarbeit zahlreiche erprobte Konzepte und Methoden gebe - so resümierte z.B. der "Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Programms ‚Entimon - gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus'" im Dezember 2004 -, stelle sich der gegenwärtige Stand der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus anders dar: Es müsse konstatiert werden, dass
In verschiedenen Projekten - so auch von IDA - wurden mittlerweile Informations- und Bildungsmaterialien erstellt, die sich vor allem an MuItiplikatoren und Multiplikatorinnen wenden. Die Aufklärung über Facetten und Grundstrukturen des Antisemitismus soll diese in die Lage versetzen, angemessen in konkreten Situationen zu reagieren. Einen darüber hinausgehenden Ansatz verfolgt das mehrjährige Projekt "Fit machen für Demokratie und Toleranz" des Zentrums für Antisemitismusforschung, des Berliner Landesinstituts für Schule und Medien und des Berliner Büros des American Jewish Committee. Neben der Vermittlung von Kenntnissen über eine CD-Rom und Fortbildungen für Lehrer und Lehrerinnen, setzt das Projekt auf das sog. Youth Leadership Program. Dabei werden Jugendliche über jüdische Geschichte, antisemitische Stereotype sowie Argumentations- und Präsentationstechniken geschult, um in ihrem Umfeld antisemitischen Tendenzen selbstbewusst entgegen treten zu können.
Benz, Wolfgang (2001): Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München
Benz, Wolfgang (2002): Formen des Antisemitismus, in: IDA-NRW (Hg.): "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen." Antisemitismus in Deutschland. Materialien zum Rechtsextremismus, Bd. 5, Düsseldorf, S. 5f
Benz, Wolfgang (2004): Was ist Antisemitismus?, Bonn, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung
Bergmann, Werner (2002): Geschichte des Antisemitismus, München
Bergmann, Werner (2004): Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Extremismus in Deutschland, hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Berlin 2004, S. 25-55
Bergmann, Werner (2005): Neuer oder alter Antisemitismus, in: Das Parlament, Nr. 15/2005
Fein, Helen (1987)(Hg.): The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, New York
Rensmann, Lars (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden